- Literaturnobelpreis 1964: Jean-Paul Sartre
- Literaturnobelpreis 1964: Jean-Paul SartreDer Franzose erhielt den Nobelpreis in Anerkennung seines schöpferischen Schaffens, dessen freiheitlicher Geist und dessen Suche nach Wahrheit einen weit reichenden Einfluss auf unser Zeitalter hat.Jean-Paul Sartre, * Paris 21. 6. 1905, ✝ Paris 15. 4. 1980; 1931-44 Philosophielehrer an Gymnasien in Le Havre, Laon und Paris, ab 1945 freier Schriftsteller, 1956 Bruch mit dem sowjetischen Kommunismus, 1967 Vorsitzender des Russell-Tribunals gegen den Vietnamkrieg, 1968 Verurteilung der Truppen des Warschauer Pakts, die in die Tschechoslowakei einmarschierten.Würdigung der preisgekrönten LeistungAls dem französischen Philosophen und Schriftsteller 1964 der Preis zuerkannt wurde, lehnte er es als bis heute einziger Schriftsteller ab, ihn anzunehmen. Trotz dieses Verzichts wird er von der Schwedischen Akademie als Nobelpreisträger angesehen. In einem Artikel in »Le Monde« nannte Sartre als Grund die einseitige politische Parteinahme für den Westen, die für ihn mit der Annahme des Preises zwangsläufig verbunden gewesen wäre. Zudem verwies er darauf, dass er bislang alle Auszeichnungen abgelehnt habe, um sich seine Unabhängigkeit zu erhalten. Der wahre und freie Schriftsteller überzeuge nur durch das Wort, das von jeder Institution unabhängig zu sein habe. Dieses Selbstverständnis als schreibender Autor prägte Sartres gesamtes Werk.Schreiben als Existenz»Sartre lebte, um zu schreiben. Er war berufen, von allen Dingen Zeugnis abzulegen und sie, unter dem Primat der Notwendigkeit, denkend neu zu erschaffen.« Simone de Beauvoir musste es wissen, war sie doch Sartres langjährige Lebensgefährtin. Seit dem gemeinsamen Philosophiestudium führten sie eine Freundschaft und Lebensgemeinschaft jenseits bürgerlicher Normen, ohne feste Bindung und nach der Maxime einer gegenseitigen offenen Aufrichtigkeit. Mit dieser Form des persönlichen Verhältnisses wurden sie zu Vorbildern zahlreicher Intellektueller in und außerhalb Frankreichs.Während des Zweiten Weltkriegs war Sartre nach deutscher Kriegsgefangenschaft in der Résistance aktiv. Ab 1945 war er als freier Schriftsteller tätig und gründete zusammen mit Simone de Beauvoir und Maurice Jean-Jacques Merleau-Ponty die politisch-literarische Zeitschrift »Les temps modernes« und engagierte sich auf der Seite der politischen antiautoritären Linken. Sartres Zuwendung zum real existierenden Kommunismus fand 1956 mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn ein Ende. In den 1960er-Jahren wandte er sich gegen den Vietnamkrieg, gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag (1968), und er unterstützte die studentische Protestbewegung. Als führender Vertreter des Existenzialismus übte Sartre großen Einfluss auf die französische Jugend der Nachkriegszeit aus. Er verfasste sowohl philosophische Werke als auch Dramen und Romane. Schreiben wurde für ihn zur Existenzform. In dem 1964 erschienenen autobiografischen Roman »Die Wörter« charakterisierte er selbstironisch seine Berufung zum Schriftsteller: »Schaute ich von der Höhe meines Grabmals hinab, so erschien mir meine Geburt als ein notwendiges Übel, als eine ganz vorläufige Fleischwerdung, dazu bestimmt, meine Verklärung vorzubereiten: um wiedergeboren zu werden, muss man schreiben, zum Schreiben braucht man ein Gehirn, Augen, Arme; war die Arbeit beendet, fielen diese Organe in sich zusammen: ungefähr um das Jahr 1955 würde ein Kokon aufplatzen, fünfundzwanzig Schmetterlinge in Buchformat würden davonflattern [...] und sich schließlich auf einem Regal der Nationalbibliothek niederlassen. Diese Schmetterlinge wären nichts anderes als ICH. ICH: fünfundzwanzig Bände, achtzehntausend Textseiten, dreihundert Abbildungen, darunter das Bildnis des Verfassers.«»Das Sein und das Nichts«Dieses 1943 erschienene Werk, die Existenzphilosophie Sartres, ist beeinflusst von Martin Heideggers »Sein und Zeit« (1927) und der Phänomenologie Edmund Husserls, mit der sich Sartre während eines Stipendienaufenthaltes von 1933 bis 1934 am Institut Français in Berlin befasst hatte. Freiheit ist der zentrale Begriff in Sartres Philosophie und, davon beeinflusst, auch in seinen Stücken und Romanen. Freiheit definiert die Existenz des Menschen, der das, was er wesenhaft ist, erst aus der Freiheit heraus zu schaffen hat. Dabei unterscheidet Sartre zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Seinstypen: das »An-sich« und das »Für-sich«. Ersteres ist einfach das, was es ist, Letzteres wiederum das, was es zu sein hat. Das »Für-sich« gewinnt sein Sein in seinem Verhältnis zum »An-sich« und zu sich selbst. Auf diese Weise erlangt es Bewusstsein. Das Selbstverhältnis erfährt der Mensch über die Erfahrung des Anderen. Dies erfolgt zumeist im Ereignis des Blicks. Im wechselseitigen Erblicken werden der Andere und Ich jeweils füreinander zu einem Gegenstand. In dieser Objektivierung sieht Sartre die Voraussetzung der Gründung von Subjektivität. Danach bedarf das Sich-selbst-Kennen unbedingt des Anderen, weil ich, um mich zu kennen, mir selbst erst Objekt werden muss. Hinzu kommt für Sartre das Moment der radikalen Grunderfahrung der eigenen Existenz, die sich im Gefühl des Ekels unmittelbar einstellt. Und so lautet auch der Titel seines 1938 erschienenen Debütromans »Der Ekel«.Das Sein des »Für-sich« besitzt zugleich die Struktur eines »Entwurfs« (Heidegger). Im permanenten Sichentwerfen wird das jeweils Gegenwärtige als Gewesenes negiert. In dieser Nichtung erfährt das »Für-sich«-Sein seine Freiheit, der es sich nicht entziehen kann. Der Mensch ist sozusagen zur Freiheit verurteilt, zugleich für sein Tun und Handeln voll und allein verantwortlich. Diesbezüglich ist Sartre konsequenter Atheist. Im Engagement und mit der von ihm bejahten Verantwortung für das eigene Tun gewinnt der Mensch die höchste Form seines Seins.»Das Spiel ist aus«So nennt die deutsche Übersetzung das 1947 erschienene Filmdrehbuch Sartres »Les jeux sont faits«, das als Theaterstück 1958 uraufgeführt wurde. Die Handlung spielt in einem nicht näher bezeichneten Land der Gegenwart am Vorabend eines Aufstands gegen eine faschistische Diktatur. Der Anführer der Untergrundbewegung, fällt dem Anschlag eines Polizeispitzels zum Opfer. Die Frau des Polizeichefs wird von ihrem Mann vergiftet. Im Reich der Toten verlieben sich beide ineinander. Da sie sich nur aufgrund eines Irrtums der »Direktion« nicht schon im Leben begegnet sind, wird ihnen die Chance gewährt, gemeinsam ein neues Erdendasein zu beginnen. Und zwar unter der Bedingung, dass sie in 24 Stunden lernen, sich vorbehaltlos zu lieben. Trotz ihres festen Vorsatzes verstricken sich beide in ihre alten Problem- und Rollenmuster. Beide kehren gescheitert ins Totenreich zurück. Die Gefahr des Verspielens einer Chance durch vorbestimmte Umstände drückt der letzte im Film gesprochene Satz aus: »Wenn die Kugel einmal rollt, sehen Sie, kann man eben seinen Einsatz nicht mehr ändern.« Das Drehbuch formuliert jedoch nicht die Resignation gegenüber dem Unabänderlichen, sondern ist vielmehr als literarische Inszenierung eines Spiels zu deuten, das im existenzialistischen Sinne nie aus ist, da weiter die Chance besteht festgelegte Strukturen zu durchbrechen und immer wieder neu zu beginnen.M. Kempe
Universal-Lexikon. 2012.